Tanzen Sie gerne? Tanzen ist wohl eine der Fähigkeiten, die jeder Mensch grundsätzlich hat, nur die Expertise und die Freude daran unterscheiden sich wohl sehr. Oft hört man Leute sagen: „Ach nein, ich kann nicht tanzen.“ In den meisten Fällen stimmt das wohl nicht, aber darum soll es hier gar nicht gehen. Wir können uns alle in dreidimensionalen Räumen bewegen und zurecht finden, schließlich ist unsere Lebenswelt genau so aufgebaut.
Dieser natürliche Umgang mit räumlichen Umgebungen war gewissermaßen Ausgangspunkt unseres Projektes Liquid Dance, dass es zum Ziel hat, große Datenmengen räumlich sichtbar und verständlich zu machen. Wir wollen etwas veranschaulichen, das sonst nicht sichtbar ist. Für dieses Sichtbarmachen nutzen wir eine virtuelle Umgebung, genau genommen virtual-reality-Technologie (VR), um den Daten Raum zu geben. Diesen brauchen sie, um eine neue Gestalt zu entfalten, genau wie man zum Tanzen Platz braucht. Sie können das eventuell nachvollziehen, falls Sie schon einmal in einem sehr vollen Club waren und eigentlich gerne getanzt hätten, aber schlicht kein Raum war, sich zu bewegen. Der virtuelle Raum ist glücklicherweise quasi unendlich groß, sodass uns dieses Problem nicht widerfahren kann.
Um an dieser Stelle kurz zusammenzufassen: Unser Projekt Liquid Dance will eine neue Darstellungsform für große Datenmengen bzw. BigData Probleme entwickeln, welche diese graphisch in einer virtuellen Realität darstellt. Wir glauben, dass es an der Zeit ist, einen neuen Umgang mit Daten zu ermöglichen. Warum? Weil die Menge an Daten, die die Menschheit produziert, kontinuierlich steigt und immer unübersichtlicher wird. Zugleich sind Daten aber auch von immer größerer Bedeutung bei der Lösung gegenwärtiger Probleme. Wie man sich auch beim Tanzen immer wieder auf das Neuartige einlassen muss, so bieten wir eben einen neuen Ansatz der Datenanalyse.
Wir schaffen innerhalb der virtuellen Realität Möglichkeiten zur Interaktion mit den Daten in einer immersiven Umgebung und wollen damit mehr als einen abstrakten, gedanklichen Umgang möglich machen. Im Sinne des „physical thinking“, wie der Tänzer und Choreograph Wayne McGregor das Tanzen beschreibt, soll der ganze Körper, der ganze Mensch am geistigen Prozess beteiligt sein.
Liquid Dance verfolgt einen interaktiven, imersiven Ansatz, der die Komplexität großer Datensätze neu erfahrbar machen möchte. Im ersten Moment mag die VR-Umgebung sehr spielerisch wirken und zu teilen ist das auch der Fall, allerdings ist es den Nutzer*innen jederzeit möglich, einzelne Bereiche der Datenwolke genauer unter die Lupe zu nehmen und die ursprünglichen Werte dahinter angezeigt zu bekommen. Unser Projekt ist also nicht nur eine experimentelle Darstellungsform, sondern möchte auch aktiv mit einem Erkenntnisinteresse genutzt werden.
Ein Vulkanausbruch und eine Menge Daten
Unser Modell simuliert die Aschewolke eines Vulkans und arbeitet dabei mit Daten, die beim Ausbruch des Vulkans Raikoke im Pazifik von Forschern des Karlsruher Institut für Technologie gesammelt wurden. Dr. Bernhard Vogel und sein Team haben vor einigen Jahren ein Vorhersagemodell für Vulkanaschewolken entwickelt und dieses kam auch beim Ausbruch des Raikoke zum Einsatz. Bei einer jeden solchen Messungen der Wolken entstehen riesigen Datenmengen, so wie das tagtäglich überall auf der Welt in allen Lebensbereichen der Fall ist. Wir sind kaum in der Lage, Schritt zu halten. In der Wissenschaft verdoppelten sich die vorhandenen Daten alle 18 Monate, so der Molekularbiologe und Bioinformatiker Jan Korbel im Deutschlandfunk. Gleichermaßen sind Daten heute wichtiger denn je für die Forschung.
Wir Menschen tun uns schwer im Umgang mit diesen riesenhaften, abstrakten Gebilden. Immer häufiger kommen KI und Algorithmen zum Einsatz, die darauf trainiert sind, innerhalb dieser Datencluster nach Mustern zu suchen. Professor Jeff Leek von der Johns Hopkins Universität gibt allerdings zu bedenken, dass Menschen immer Einfluss auf die Auswertung der Daten haben, mit denen sie arbeiten. Und dass diese Einflüsse bei weitem nicht immer gut rational begründbar sind. Professor Günter Gauglitz von der Uni Tübingen ist der Meinung, dass der Mensch in manchen Belangen den Computern immer noch etwas voraus hat, vielleicht gerade aufgrund jener instinktiven Handlungen. Warum also nicht nach einem Weg suchen, der dem Mensch wieder mehr Handlungsspielraum im Umgang mit Daten gibt? Und genau an dieser Stelle will Liquid Dance eben ansetzen.
Big Data in Virtual Reality
Wir nutzen zur Erstellung der virtuellen Realität die Unity-Game-Engine, die sonst zur Spieleentwicklung genutzt wird. Die zu verarbeitenden Datenmengen sind jedoch so groß, dass sie extern von einer Cloud durchgerechnet werden. Wir nutzen dafür AWS, den cloud computing-Dienst von Amazon als „Platform as a Service“, also Programmierumgebung und Rechenleistung in einem. Die Cloud korrespondiert live mit der Game-Engine, denn Anfragen der Nutzer*innen, also z.B. das genauere Betrachten eines Ausschnitts der Aschewolke, werden in Echtzeit von der Cloud berechnet und innerhalb der VR-Umgebung bereitgestellt. Unser Modell simuliert Windkräfte, die auf die Aschepartikel wirken und stellt die Stoffzusammensetzung innerhalb der Wolke über die Eigenbewegung der einzelnen Partikel dar. Der ursprüngliche Datensatz enthält noch mehr unterschiedliche Kategorien, aufgrund begrenzter Ressourcen war es uns aber nicht möglich, diese alle ins Modell aufzunehmen.
Warum VR?
Virtual reality und alles was dazu gehört, also sowohl die Hardware als auch die Software, ist auf dem aufsteigenden Ast und wird in den kommenden Jahren wohl immer mehr Einzug ins alltägliche Leben halten. Weithin bekannt ist die Technologie schon heute: 2019 sagten 90% der Befragten schon einmal von VR gehört oder gelesen zu haben. Virtual reality bietet durch seinen immersiven Charakter ganz neue Chancen. Auch gesellschaftliche Akteure wie die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) oder die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) sehen diese Chancen und machen schon heute Vorschläge, wie VR zu Bildungszwecken genutzt werden kann, beispielsweise für Ausflüge durch die Geschichte oder eine Reise ins Innere des Menschen. Wir möchten uns insbesondere die Option, mit der virtuellen Umgebung zu interagieren und die schier unendlichen Blickwinkel zu Nutze machen.
Daten sichtbar machen – in Raum und Zeit
Wieso sind wir so überzeugt davon, dass eine räumliche Darstellung förderlich für den Umgang mit großen Datenmengen ist? Im Prinzip, weil wir glauben, dass es unserem menschlichen Gehirn liegt, visuell und dreidimensional zu arbeiten – und die Wissenschaft stützt unseren Ansatz.
Parsons und Sedig halten in einem Artikel fest, dass Visualisierungen zahlreiche Vorteile für kognitive Aktivitäten haben, zum Beispiel bei Problemlösung, dem Verstehen und auch analytischem Argumentieren. Aysolmaz und Reijers finden in ihrer Forschung Hinweise darauf, dass Animationen die wahrgenommene Komplexität einer Aufgabe verringern können. Daher sind wir der Meinung, dass die visuelle und eben insbesondere die dynamische Darstellung komplexer BigData Probleme zielführend sein kann, auf einem Weg zu einem besseren Verständnis.
Im Jahr 2015 ging der Nobelpreis für Medizin an die Forscher John O’Keefe und das Ehepaar May-Britt und Edvard Moser für die Entdeckung der Ortszellen bzw. Gitterzellen in unserem Gehirn, die für das Speichern räumlicher Information zuständig sind. Des Weiteren konnten bei Ratten Zeitzellen gefunden werden, die Ereignisse in ihrer Abfolge markieren. Professor Thier von der Universität Tübingen erkennt darin „Zeit und Raum als Konstrukte des Gedächtnisses, die Bezüge zwischen Fakten und Ereignissen ermöglichen.“ Die Forschung von Christian Doeller, der am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften arbeitet, legt nahe, dass unser Gehirn auch ganz andere Informationen mithilfe jener Navigationszellen einordnet. So würden zum Beispiel berufliche Hierarchien auch mittels geometrischer Prinzipien geordnet. Der Umgang mit allem Räumlichen scheint also tief in unserem Gehirn verankert zu sein.
Deshalb entschieden wir uns, die visuelle Darstellung eben nicht auf einen Bildschirm zu beschränken, sondern diese innerhalb des virtuellen Raumes, der virtual reality, umzusetzen – weil dieser unserer alltäglichen Umgebung näher kommt.
Immersion erzeugt Motivation
Die Umsetzung innerhalb von VR ermöglicht außerdem Immersion. Lernen in einer immersiven Umgebung lädt zum Entdecken ein und macht neugierig. In der Immersion besteht auch die Chance, Nutzer:innen zur Auseinandersetzung mit dem Komplexen oder Unbekannten zu motivieren. Aus der Hemmschwelle, die die Datentabellen einst waren, ist nun eine spannende, einladende Umgebung geworden, in der sich jede/r ausprobieren darf, unabhängig vom eigenen Wissensstand.
Unser Projekt folgt hier konstruktivistischen Ideen, beispielsweise, dass Wissen im Handeln entsteht und interaktiv konstruiert wird. Liquid Dance bietet genau dafür den Raum, zum handeln, interagieren und erkennen.
Big Data neu erleben – Denkräume erschaffen
Unser Projekt möchte einen neuen Zugang zu Raum und Wahrnehmung schaffen, neue Blickwinkel ermöglichen, genau genommen alle Blickwinkel ermöglichen und eine „hands-on“-Erfahrung. Denn: Interaktion ist lernfördernd, befinden Robertson et al. schon 1994 in einer Arbeit zur Reduzierung von Komplexität bei geographischen Kartierungen mit Farben. Auch David Kirsh befindet in einer Arbeit zum Denken, dass es mittels Interaktion leichter ist, Denkprozesse effizient und effektiv zu gestalten. Er ist zudem Verfechter der externen Repräsentation, also der Darstellung der Gedanken bzw. des Problems außerhalb des eigenen Gehirns. Durch die Interaktion mit dem externen Objekt erhalte der Nutzer Feedback und könne sich so auf das vorliegende Problem fokussieren, anstatt von der Komplexität der Daten und Umsetzung abgelenkt zu werden. Die Komplexität der Daten lässt auch Liquid Dance im Hintergrund verschwinden, sodass der Nutzer sich auf den Raum, in dem er sich befindet, konzentrieren kann und sich darin auf die Suche nach emergenten Phänomenen machen kann, die aus der Komplexität der Daten entstehen. Vielleicht liegt direkt vor dem eigenen Auge eine Verwirbelung der Aschewolke, die sonst nirgends auftritt. Auffälligkeiten in Daten sind nämlich Häufig der Einstieg für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit eben jenen. Zu diesem Schluss kommen Koesten et al. in einer Studie, welche untersucht hat, wie unterschiedliche Wissenschaftler:innen mit Datensätzen umgehen. „Strange things“ werden dort als Einstiegspunkt gesehen, nicht als Hindernis.
Es wird also ein explorativer Umgang mit BigData entstehen, bei dem es dank VR-Technologie möglich ist die Daten wortwörtlich zu begreifen. Mit den Controllern kann ein Nutzer in die Asche- bzw. Datenwolken hineingreifen und dabei die dahinter liegenden Daten herausziehen und bekommt diese dann als kleinen Tabellenausschnitt vor das virtuelle Auge projiziert, in Echtzeit. Wir setzen hier auf erforschendes Lernen, welches nach Dalgarno et al. als der vielversprechendere Ansatz im Vergleich zu rein beobachtendem Lernen gesehen werden kann. Der Astronom Heino Falcke sieht hier Chancen, dass der Mensch „mit seiner kreativen Art und seiner Neugier eben Dinge entdecken kann, die nicht geplant waren.“ Professor Jeff Leek gibt außerdem zu bedenken, dass verschiedene Personen ein und denselben Datensatz unterschiedlich analysieren. Üblicherweise geschieht so etwas aber aufgrund des Zeitaufwandes gar nicht erst. Mit Liquid Dance und der graphischen Darstellung ist es jedoch viel schneller möglich, einen Überblick über die Daten zu bekommen. So ist es künftig leichter, einen Datensatz von mehreren Expert:innen untersuchen zu lassen.
Liquid Dance ermöglicht also einen ganzheitlichen Zugang zu BigData, der es mittels virtual reality möglich macht, Daten im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. Nutzer:innen können die Wolke aus jedem gewünschten Winkel und Abstand betrachten. Anstatt sich durch abertausende Tabellen blättern zu müssen, fliegen diese an einem vorüber – der ganze Prozess ist nun sichtbar und kann unter die Lupe genommen werden und das eben auf ganz andere Weise, als dies ursprünglich der Fall war. Kalte Daten können in einem lebendigen Raum wahrgenommen werden und womöglich ergibt sich aus der Komplexität des Ganzen ein bislang unbekanntes emergentes Phänomen. Um David Kirsh zu zitieren: „Models reveal unanticipated consequences.“
Wohin geht die Reise?
Liquid Dance ist die Erprobung einer Idee und ihrer technischen Umsetzung, die, wie oben bereits erwähnt, mit mehr Ressourcen und Zeit durchaus noch mehr leisten könnte. Trotzdem sind wir überzeugt, dass der grundsätzliche Nutzen unseres Ansatzes damit erprobt werden kann. Sollte sich dieser bestätigen, so stehen durch die technologische Reife von VR, cloud computing und Game-Engines alle Türen offen, den Ansatz auf andere prozesshafte BigData-Probleme zu übertragen.
Wir sehen verschiedene potentielle Einsatzfelder für Anwendungen wie Liquid Dance. An dieser Stelle sollte auch erwähnt werden, dass es grundsätzlich denkbar wäre, die Anwendung in Richtung augmented reality weiterzuentwickeln, sodass sie etwas niederschwelliger nutzbar wäre.
Gerade im Bereich Bildung wären AR-Anwendung reizvoll, zum Beispiel in Museen, wo eine virtuelle Aschewolke auf einen physischen vorhandenen Modellvulkan gesetzt werden könnte. Aber auch die reine VR-Version kann im Bereich Naturwissenschaften Dinge veranschaulichen, nahbar und greifbar machen und auf diese Weise bei Schülern und Studenten Begeisterung wecken.
Im Bereich der Wirtschaft und Industrie besteht auch Potential für sowohl AR- als auch VR-Anwendungen. Mittels AR könnten laufenden Produktionsprozesse in Echtzeit simuliert und kontrolliert werden, insbesondere wenn es sich um Fließ- oder Strömungsprozesse handelt. Virtual reality könnte eine Effizienzsteigerung bewirken, wenn unübersichtliche Daten eingeordnet oder überblickt werden müssen.
Die Wissenschaften selbst könnten insbesondere profitieren, sind Daten heutzutage doch Grundlage so vieler Forschungsprojekte. Neben den aktuellen üblichen Arbeitsweisen mit und rund um KI könnten Liquid Dance und ähnliche Umsetzungen den Wissenschaftler*innen selbst wieder mehr Chancen bieten, ihr Wissen und ihren Erfahrungsschatz direkt auf die Daten anzuwenden und nicht erst auf die Ergebnisse, die eine KI ausgespuckt hat. Dabei ist das Verfahren nicht auf bestimmte Fachrichtungen beschränkt, auch die Sozialwissenschaften können beispielsweise mit Panel-Daten über Entwicklungen innerhalb der Bevölkerung eine Engine füttern und den virtuellen Raum füllen.
Liquid Dance will den Daten Raum geben, sich zu entfalten, sodass Menschen die verstecken Informationen aus ihrer emergenten Gestalt herauslesen können. Die Idee mag aktuell noch experimentell sein, doch durch die immer nur weiter wachsenden Datenmengen in unserer Welt wird ein neuer Umgang damit fast zwingend notwendig. Mit Liquid Dance bieten wir eine Möglichkeit, BigData neu zu denken.
Über den Autor
Moritz Lang studiert Wissenschaft-Medien-Kommunikation am KIT und war Praktikant bei Studio Fluffy. Er war an verschiedenen Projekten der öffentlichen Kommunikation beteiligt, darunter auch „Liquid Dance“. Inzwischen ist er als Werksstudent bei Studio Fluffy tätig.
Quellen
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